X

Herzlich Willkommen auf den Webseiten der liberalen Jüdischen Gemeinde Göttingen!

Hier finden Sie Informationen und Bilder zu unserem aktuellen religiösen, sozialen, kulturellen und politischen Leben, zur Geschichte der Gemeinde und ihrer Gebäude und zu unserem Friedhof. Wir berichten regelmäßig über wichtige Ereignisse, Feste und unsere interreligiösen wie interkulturellen Kontakte. Im Archiv finden Sie Veröffentlichungen und Presseartikel, u.a. zum Thema Geschichte des jüdischen Lebens in Göttingen.

Unsere G'ttesdienste und shiurim finden in Präsenz statt, wenn die Coronaregelungen dies erlauben. Auch dann werden die Veranstaltungen z.T. als "Hybrid-Veranstaltungen" gehalten, d.h. in Präsenz und über ZOOM.
 

Draschot

Liberale Jüdische Gemeinde Göttingen

 Drascha für den 9.Nov.2023 (26.Cheschwan.5784)

von Rabbinerin Jasmin Andriani

Nach dem 7. Oktober ringen angesichts der Situation in Israel und Palästina viele Menschen um die richtigen Worte. Auch Predigende suchen nach einer angemessenen Sprache. In Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat die AG jüdisch und christlich beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in diesem Jahr zum ersten Mal einen Predigtpreis im christlich-jüdischen Kontext ausgeschrieben. Vier der eingesandten Predigten werden nun ausgezeichnet. (Homepage der Evangelischen Akademie zu Berlin)

Jasmin Andriani

Für die folgende Drascha hat unsere Gemeinderabbinerin Jasmin Andriani am 20.10.24 einen der Preise erhalten:

Drasha Wajera Thomaskirche Leipzig 9.11.23

Liebe Gemeinde,

ich danke Ihnen für die Einladung. Ich spreche zu Ihnen als Jüdin über den 9. November 1938, der Tag, der das deutsch-jüdische Band zerriss und der Anfang der Vernichtung des europäischen Judentums darstellt.

Ich möchte Sie gerne an meiner ganz persönlichen Geschichte teilhaben lassen.

Meine Großmutter Margot Ebstein ist 1918 geboren und in Breslau aufgewachsen. Sie hat ihre Kindheit und Jugend in Deutschland beschrieben. Gerne möchte ich Ihnen einige Stellen aus ihrem Text vorlesen die von den Ereignissen rund um die Reichspogromnacht 1938 handeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits die Schule verlassen müssen, durfte nicht studieren und arbeitete zum Broterwerb in der Praxis eines jüdischen Arztes.

Auch an jenem bitteren 10.November 1938 früh um 9 Uhr ging ich in meinen Dienst. Auf dem Weg zu ihm rief mir ein jüdischer älterer Herr zu:

Die große Synagoge brennt und die Schaufenster aller jüdischen Geschäfte werden eingeschlagen.“ Ich stürzte zu dem Praxishaus. Von weitem sah ich schon die eingeschlagenen Fensterscheiben. Der Hauseingang war mit Glassplittern besät. Daneben stand ein Polizist mit Sturmriemen. Oben riss ich zuerst an der Klingel, aber niemand öffnete.

Zum Glück hatte ich einen Schlüssel bei mir. Ich schloss auf. Niemand war in der Wohnung. Ich rannte zu dem Zigarrenhändler, dessen Wohnung sich neben der unsrigen befand. Seine alte Frau öffnete mir und sagte weinend, dass ihr Mann, der doch schon über 80 Jahre alt war und auch mein Chef vor etwa 10 Minuten von 2 Gestapoleuten fortgeführt worden sei.

Ich stand einen Augenblick starr. Dann begann mein Gehirn wieder zu arbeiten.

Nun versucht meine Großmutter ihren Chef, den Arzt Dr. Fritz Littauer, zu retten. Die einzige Möglichkeit bestand darin, die notwendigen Papiere für eine Flucht ins Ausland zu organisieren. Sie erzählt weiter:

Vor meinem Taxi fuhren in langen Ketten die Lastwagen, in denen die eben verhafteten Juden saßen. Sie sollten scheinbar ins Polizeipräsidium geschafft werden. Wie dort die vielen tausend Menschen untergebracht werden sollten, war mir nicht ganz klar. Später hörte ich, dass sie in den großen Höfen dieser Gebäude zusammengedrängt bis zum Abend stehen mussten, bevor sie nach den Konzentrationslagern abtransportiert wurden.

Nur einige Ladenmädchen oder ältere Schulkinder standen neugierig auf der Straße und lachten manchmal schadenfroh. Immerfort hörte ich die schrillen Hupen der rasch fahrenden Polizeiwagen. Der ganze Verkehr stand dadurch in der Stadt still und mein Auto musste öfters halten. Wir fuhren an der brennenden Synagoge vorbei. Die große Kuppel, ein Wahrzeichen unserer Stadt, rauchte und stand schon schief. Ab und zu hörte man große Detonationen, die von den Sprengungen herrührten, die die Feuerwehr vornahm, um ein schnelleres Ende der Synagoge herbeizuführen. Aber die schweren Quadern der Mauer wankten nicht und nach langer Zeit erst wurde die Breslauer Bevölkerung von dem peinlichen Anblick des abgebrannten Gotteshauses befreit.

 

Nach etwa 14 Tagen kamen die ersten Karten von „Schutzhäftlingen“ aus dem Konzentrationslager in Buchenwald bei bekannten Familien an. Buchenwald war als das schlimmste aller Lager bekannt. Und von meinem Chef kam keine Nachricht. Ich wusste nicht, ob ich mich für einen Lebenden oder einen Toten bemühe. Täglich hörte man, dass diese oder jene Familie die Asche eines Toten zugestellt bekommen hatte. Die Urnen wurden als Nachnahmesendung behandelt, das heißt der Betrag von 3.75 Mk. wurde von der Post dafür genommen.

Vierzehn Tage nach der Verhaftung, also gleichzeitig mit den ersten Nachrichten, die in Breslau aus Buchenwald einliefen, bekam ich aus Berlin die Nachricht, dass das Zertifikat für Palästina beschafft sei. Ich telefonierte sofort nach Berlin, aber von dort bekam ich die niederschmetternde Nachricht, dass das Anwaltsbüro inzwischen polizeilich geschlossen worden war.

Also mußte meine Großmutter persönlich nach Berlin fahren.

Auf die Straße gekommen, sah ich überall eingeschlagene jüdische Geschäfte, die ja gerade auf dem Kurfürstendamm, wo ich zu tun hatte, sehr zahlreich waren. Ich hatte schrecklichen Hunger, aber wo sollte ich essen? Die jüdischen Restaurants waren geschlossen und die arischen für Juden verboten. Nun musste ich für eine Unterkunft für die nächste Nacht sorgen.

Dem 20-jährigen Mädchen gelang es tatsächlich, die Dokumente zur Ausreise zu beschaffen und ihren Chef zu retten. Im April 1939 verließ auch sie Deutschland in Richtung Palästina.

 

Als ich über die Alpen fuhr, stand ein arischer Herr, der einen sehr vornehmen Eindruck machte, neben mir am Fenster. Er erklärte mir die Landschaft und fragte mich dann, wohin ich fahre. Ich sagte: „nach Palästina“ und glaubte schon, jetzt würde er nicht mehr mit mir weiter sprechen. Aber er meinte, das habe er sich schon gedacht. Zum Schluss dankte ich ihm für seine Erklärungen und sagte, ich hätte mich so gefreut, genauso über die Gegend zu fahren, weil ich doch heute die Alpen zum ersten und zum letzten Mal in meinem Leben sehen würde. Er antwortete: „Ich garantiere Ihnen, n i c h t zum letzten Mal!“

Es war das letzte Mal. Meine Großmutter verstarb 1960 in Jerusalem. Nie wieder sah sie die Alpen, Deutschland oder ihre Familie wieder. Ihre Mutter wurde von Breslau aus deportiert und 1943 in Theresienstadt ermordet.

Wie konnte das alles geschehen? Wie konnten Menschen aus unserer Mitte herausgerissen werden und plötzlich gehörten sie nicht mehr dazu? Wie konnte sich über Jahre hinweg ein Regime etablieren, das auf Unrecht und Angst fußte? Wie konnte diese Entwicklung zu der Ermordung von 6 Millionen Juden in Europa führen, davon eineinhalb Millionen Kinder?

Ich kann es einfach nicht erklären! Egal wie viele Bücher ich lese.

 

Ein Blick in die Tora erklärt nicht den deutschen Nationalsozialismus, aber die Tora beschreibt etwas, das vor 3000 Jahren, vor 85 Jahren und heute das Geschehen bestimmt: Den Menschen. Wie verhält er sich in schwierigen Situationen, in Krisen und Katastrophen? Was ist ihm wichtig? Gelingt es ihm, sich moralisch zu verhalten, oder wird er korrumpiert durch Verlockungen oder Angst? Welche Wahl trifft er mit seinem freien Willen?

In den jüdischen Gemeinden weltweit lasen wir diesen Shabbat den Wochenabschnitt „Wajera“ aus dem Buch Bereschit, Genesis. Auch hier begegnen uns Tod und Zerstörung. G´tt hat vor, die beiden Städte Sodom und Gomorrha zu vernichten. Allerdings folgt auf den Entschluss nicht unmittelbar die Umsetzung. G`tt zögert kurz und die Bibel überliefert uns sehr bemerkenswert sein g´ttliches Selbstgespräch in dem Er mit sich selbst hadert: „Soll ich verbergen vor Awraham was ich tue? Und Awraham wird doch werden zu einem großen und mächtigen Volke und in ihm werden gesegnet alle Völker der Erde. Denn ich erkannte ihn, weil er befehlen wird seinen Söhnen und seinem Hause nach ihm, dass sie halten den Weg des Ewigen, zu tun Gerechtigkeit und Recht.“

 

וַֽיהוָֹ֖ה אָמָ֑ר הַֽמְכַסֶּ֤ה אֲנִי֙ מֵֽאַבְרָהָ֔ם אֲשֶׁ֖ר אֲנִ֥י עֹשֶֽׂה׃‏ וְאַ֨בְרָהָ֔ם הָי֧וֹ יִֽהְיֶ֛ה לְג֥וֹי גָּד֖וֹל וְעָצ֑וּם וְנִ֨בְרְכוּ ב֔וֹ כֹּ֖ל גּוֹיֵ֥י הָאָֽרֶץ׃ כִּ֣י יְדַעְתִּ֗יו לְמַעַן֩ אֲשֶׁ֨ר יְצַוֶּ֜ה אֶת־בָּנָ֤יו וְאֶת־בֵּיתוֹ֙ אַחֲרָ֔יו וְשָֽׁמְרוּ֙ דֶּ֣רֶךְ יְהוָ֔ה לַעֲשׂ֥וֹת צְדָקָ֖ה וּמִשְׁפָּ֑ט

(Gen 18, 17-19)

Was geschieht hier? G´tt weilte viereinhalb Milliarden Jahre alleine auf dieser Welt. Er erschuf und ließ verderben, wie es ihm gefiel. Doch plötzlich tritt der Mensch in sein Leben. Ihn hatte G´tt in seinem eigenen Abbild, beZelem Elohim erschaffen. Und zusätzlich zu den Gefühlen und Instinkten anderer Lebewesen, die vorher existierten, erhielt der Mensch noch etwas anderes: den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen. Und nicht nur als Zuschauer die Welt nach gut und böse zu bewerten, konnte der Mensch, sondern sein Handeln nach dieser Einteilung selbst lenken.

Und nun steht da dieser Mensch Abraham. G´tt ist mit ihm einen Bund eingegangen: Abraham solle sich an Recht und Gerechtigkeit halten und G´tt würde ihm als Gegenleistung viele Nachkommen und ein verheißenes Land schenken.

Das g´ttliche Selbstgespräch macht deutlich, dass es G´tt bewusst wird, dass er jetzt einen Partner im Weltgeschehen, einen Schutaf be´Boro, hat. Jemand der mitentscheidet, wie es mit diesem Planeten weiter geht.

Und weil Abraham Gerechtigkeit und Empathie als seine Handlungsmaxime hat, beginnt er mit G´tt um das Leben der Menschen in Sdom zu ringen. Er gibt zu bedenken, dass bei einer Vernichtung der gesamten Stadt auch die Unschuldigen mit den Frevlern stürben. Was wäre, wenn es 50 Zadikim, 50 Gerechte in der Stadt gäbe? Fragt er. G´tt sagte: „Gut, dann würde ich allen vergeben um der Gerechten willen.“ Und bei 40? Auch dann. Und bei 30? Usw, bis G´tt damit einverstanden ist, die Städte zu verschonen, wenn es auch nur 10 gute Menschen in ihnen gäbe.

So mutig erlaubt sich Abraham seine Stimme zu erheben und gegen Ungerechtigkeit einzutreten gegenüber einem so mächtigen Gesprächspartner. Weil er nicht anders kann. Weil sonst seine ganze Existenz auf dieser Erde keine Bedeutung hätte.

Wir wissen, wie die Geschichte weiterging: Die Gerechten konnten nicht gefunden werden und G´tt vernichtete Sodom und Gomorrha mit Feuer- und Schwefelregen. Lot, der Neffe Abrahams, und dessen Familie wurden aus der Stadt geführt. Gegen G´ttes Anweisung drehte sich Lots Frau um und wurde im Angesicht des Infernos zur Salzsäule versteinert.So ist sie gleichermaßen unlebendig und überdauert dennoch die Zeit. Für Generationen als Erinnerung an diese Geschichte.

Wie versteinert schauten wohl auch viele Menschen in diesem Land vor 85 Jahren auf die Ereignisse, die sich um sie herum entwickelten.

Wir wissen, wie schwer es war in Nazi-Deutschland die Stimme gegen Ungerechtigkeit zu erheben. Wir kennen einzelne Beispiele von erfolglos versuchtem Widerstand. Fakt ist, dass das Terror-Regime, das Deutschland 12 Jahre lang beherrschte nicht von Innen gestürzt wurde, sondern zusammenbrach, weil die Alliierten den Krieg gewannen. Breslau wurde 1945 fast komplett zerstört, heißt heute Wroclaw und liegt in Polen.

In den letzten Wochen lernte auch ich das Gefühl der Versteinerung kennen. Auch ich wurde zu Lots Frau. Die Katastrophe des 7. Oktobers, die Ermordung von 1400 Menschen in Israel,die Verschleppung von über 240 Menschen in den Gazastreifen, die Verletzungen an Körper und Seele von Abertausenden, sie überwältigt mich. Der Sadismus des durchdringt mich.

Ich muss an den Jungen denken, dessen Fuß abgehackt wurde und so verblutend starb. Ich muss an das vierjährige Mädchen denken, deren beide Eltern ermordet wurden und die sich nun als Geisel in irgendeinem Tunnel der Terroristen befindet. Wer sorgt sich um sie? Wer wird ihre Wunden heilen, sollte sie überleben? Ich muss an Shani Louk, die 22jährige Deutsch-Israelin denken, von der letzte Woche Teile des zertrümmerten Schädels identifiziert werden konnten. Ich muss nicht nur an sie denken. Das ist der falsche Ausdruck. Das Grauen zieht meinen Geist an. Ich träume von ihm. Es überwältigt mich. Ich erstarre zu Stein.

Ich bin Lots Frau.

Nein! Ich bin nicht Lots Frau! Im Gegensatz zu ihr habe ich einen Namen. Ich stamme nicht aus Sdom, einem Ort, an dem das Unrecht die Macht hat. Und ich kenne im Gegensatz zu ihr ihre Geschichte.

Aber wie soll ich weitermachen? Wie kann ich mich aus einer Steinsäule wieder in einen Menschen aus Fleisch und Blut verwandeln?

 


 

Wie gelingt es uns, nicht wie versteinert auf die Ereignisse unserer Zeit damals und heute zu blicken? Nicht regungslos und schweigend nur zuzuschauen?

Ich frage mich heute, was hätte beispielsweise die Nachbarin meiner Großmutter damals ganz konkret machen können?

Ein Mensch sein. Den anderen ebenfalls als Menschen betrachten.

Wir kennen in unserem Herzen sehr gut den Unterschied zwischen Gut und Böse. Und ignorieren wir dieses Gefühl, ist unsere gesamte Existenz vergebens. G´tt war bereit, eine ganze Stadt des Unrechts zu verschonen, wenn es nur 10 Menschen in ihr gäbe, die nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit streben. Warum eigentlich? Ist das nicht auch wieder ungerecht, die Sünder zu verschonen? Ich denke, das macht nur Sinn, wenn man sich vor Augen führt, dass eine kleine Gruppe Aufrichtiger in der Lage ist, eine ganze Gesellschaft vom Richtigen zu überzeugen. Wandel und Einsicht herbeizuführen.

Jeder Mensch hat eine Stimme und nur eine Stimme. Jeder Mensch hat eine individuelle Stimme, mit der nur er oder sie Dinge auf eine bestimmte Art und Weise ausdrücken kann, und niemand außer ihm. Niemand kann statt ihm sprechen, nur mit ihm gemeinsam. Wir können unser Leben verstreichen lassen, ohne unsere Stimme je benutzt zu haben.

Wir können immer wegschauen und uns nur um unsere persönlichen Belange kümmern. Oder wir nutzen unsere einzige Chance, die wir auf dieser Welt haben und versuchen, für das einzustehen, was wir als richtig erachten und setzen uns ein für Menschlichkeit und Respekt.

Liebe Gemeinde, eine Steinsäule lebt nicht.

Ich will leben.

Ich will hier leben.

Schalom.