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2022

„Judentum ist keine Identität“

Erzählcafé in Osterode, 8. August 2022

Das „Erzählcafé“ im Museum im Ritterhaus befasst sich mit jüdischem Leben damals und heute

Die Akteure des Erzählcafés (v. links): Richard Chajec, Cristina Esser, Brigitte Maniatis, Howard und Irene Schultens sowie Dr. Katja Langenbach. Kerstin Pfeffer-Schleicher HK Kerstin Pfeffer-Schleicher

Unterstützung durch:

Osterode „Shalom – jüdisches Leben damals und heute“ war Thema des Erzählcafés, das im Innenhof des Osteroder Museums an einem heißen Sommerabend einen idealen Veranstaltungsort gefunden hatte.

Gerade im Kampf gegen Antisemitismus sei das Anliegen der Reihe „Lebensgeschichten weitergeben“ besonders wichtig, betonte Moderatorin Brigitte Maniatis. Als Zeitzeugin berichtete Dr. Katja Langenbach aus Göttingen von ihren Lebenserfahrungen. Aufgewachsen ist sie in Hamburg, wo der Vater eine Zahnarztpraxis hatte. Obgleich ihre Mutter 33 Jahre jünger war, sei es eine ausgesprochen glückliche Ehe gewesen. „Die zwanziger Jahre müssen für sie eine wunderbare Zeit gewesen sein“, schwärmte Langenbach.

Es habe viele freundschaftliche und nachbarschaftliche Kontakte gegeben. Auch Großonkel Hans Albers sei ein paar Mal zu Besuch gewesen. Sie erzählte von einer glücklichen Kindheit in Blankenese, wo die Familie ihr Haus hatte. Dass bedrohliche Zeiten heraufzogen, davon hätten sie und ihre Spielkameradinnen und -kameraden anfangs nichts bemerkt. Doch die Besucher im Elternhaus wurden immer weniger, und dann habe es 1934 ihren Onkel – wie ihr Vater jüdischer Abstammung – getroffen. Der praktizierende Arzt sei mit falschen Anschuldigungen überzogen worden, wurde jedoch vor Gericht frei gesprochen. „Aber er hat sich davon nicht erholt“, sagte Langenbach.

Als Halbjüdin benachteiligt

1935 nahm er sich das Leben. Einige Jahre später wurde Langenbachs Vater die Approbation entzogen, auch er beging schließlich Suizid. Sie zog daraufhin mit ihrer Mutter in die Hamburger Innenstadt. An der neuen Oberschule habe sie als so genannte Halbjüdin das erste Mal Anfeindungen erlebt, ausgerechnet von ihrer Klassenlehrerin, einer bekennenden Hitler- Verehrerin. Ab 1942 durfte sie ohnehin keine Oberschule mehr besuchen. Nach Kriegsende machte sie dennoch ihr Abitur und begann 1951 ein Studium der Veterinärmedizin und Chemie in Gießen.

Zunächst sei alles erfreulich verlaufen, schilderte Langenbach, zu den Kommilitonen habe es freundschaftliche Beziehungen gegeben. Doch plötzlich wurde sie geschnitten, isoliert und gemobbt. Sie fand heraus, dass die Burschenschaft Germania die Anweisung gegeben hatte, nicht mit Juden zu verkehren, wogegen kein Verantwortlicher etwas unternahm. Bevor sie die Universität wechselte, habe sie sich von diesen Erfahrungen erst einmal in einer Klinik erholen müssen, stellte die Zeitzeugin ebenso nüchtern, sachlich und unaufgeregt fest, wie sie ihre ganze Biographie präsentiert hatte.

Obgleich Langenbachs Vater und Onkel christlich getauft waren, habe sie sich schließlich entschlossen, zum Judentum überzutreten. „Das war schlimmer als das Abitur“, sagte sie lächelnd über die dazu notwendige Prüfung, die von zwei strengen Rabbinern abgenommen worden sei. Heute gehört Dr. Katja Langenbach, die in der Grundlagenforschung und im Naturschutz tätig war, der Liberalen jüdischen Gemeinde Göttingen an. „Es gibt eine große Vielfalt im Judentum“, hob Howard Schultens hervor. Seine Frau Irene und er, die ebenfalls in der liberalen – und, wie sie unterstrichen, progressiven – jüdischen Gemeinde Göttingen aktiv sind, seien das beste Beispiel. Das Ehepaar brachte den Zuhörerinnen und Zuhörern auf unterhaltsame Weise nahe, wie jüdisches Leben sich heute gestaltet.

1964 waren die gebürtigen US-Amerikaner auf ihrer Weltreise in der Unistadt hängen geblieben. „Weltkrieg und Shoa waren damals schon kein Thema mehr hier“, erklärte Irene Schultens. In den USA habe es in den fünfziger Jahren noch viel Antisemitismus und an einigen Universitäten sogar Studienplatzbeschränkungen für Juden gegeben. In Deutschland hätten ihr Mann und sie hingegen frei studieren können. In ihrer liberalen Gemeinde, der eine Rabbinerin vorsteht, gelte ein sehr individueller Grundsatz: Jeder Mensch müsse seinen eigenen Weg zu Gott oder Göttin finden, verdeutlichte Schultens und schmunzelte: „Wir haben andere Rituale als streng orthodoxe Gemeinden, aber ein großes Feierbedürfnis.“

Transzendentale Gemeinschaft

Wichtig sei ihnen die transzendentale Gemeinschaft, in der man sich nicht nur über religiöse Fragen austauschen könne, erläuterte Howard Schultens. Beide haben deutsche Vorfahren, die als jüdische Immigranten in die USA gekommen waren, berichtete er.

Der wachsende Antisemitismus sei der Grund für sie gewesen, sich zu positionieren und ins Judentum „zurückzukehren“.Die große Publikumsrunde machte von der Möglichkeit, Fragen zu stellen, rege Gebrauch. Religion sei doch eine sehr persönliche Angelegenheit, warum werde dann so oft die Bezeichnung Jude oder Jüdin anders als beispielsweise bei Christen hervorgehoben, wollte eine Zuhörerin wissen. „Judentum ist keine Identität“, pflichtete ihr Irene Schultens bei, und Dr. Katja Langenbach bedauerte: „Die Juden“, egal ob religiös oder nicht, sei nach wie vor ein Sammelbegriff, der nicht aus den Köpfen zu kriegen sei. Über ein aktuelles jüdisches Gemeindeleben in Osterode wisse sie nichts, bekannte Moderatorin Brigitte Maniatis auf Nachfrage. Sie kenne einen Juden, der aber auch die Gemeinde in Göttingen besucht und nicht öffentlich auftreten wollte.

Für den musikalischen Rahmen des Erzählcafés sorgten Richard Chajec an der Gitarre und Cristina Esser am Akkordeon, Maniatis versuchte sich an drei jüdischen Liedern. Bei Getränken und Knabbereien, die die Wirtschaftsbetriebe Osterode gesponsert hatten und für die eine Spende zugunsten der jüdischen Gemeinde erbeten wurden, hatten Besucherinnen und Besucher Gelegenheit, sich im lauschigen Innenhof des Museums in weitere Gespräche zu vertiefen.

Zu der Veranstaltung wird eine CD herausgegeben, und unter www.vergissmeinicht-oha.de veröffentlicht die Agentur für Zeitzeugen und Erinnerungskultur einen Mitschnitt, kündigte die Moderatorin an.)

Verband Jüdischer Studierender hat in Göttingen 30 Mitglieder

Hochschulgruppe: Werbung für „Vielfalt“

Von Michael Caspar   © 01.15.2022 HNA -- mit Genehmigung

Die jüdische Hochschulgruppe steht religösen, aber auch säkularen Menschen offen: Sprecher Jannes Walter in der Synagoge an der Roten Straße. Foto: Michael Caspar

Koscher grillen, Parties feiern und der Öffentlichkeit die Vielfältigkeit jüdischen Lebens in Deutschland zeigen: Das möchte die Göttinger Hochschulgruppe des Verbands Jüdischer Studierender Nord.

Göttingen - „Wie unterschiedlich jüdische Traditionen gepflegt werden, überrascht uns selbst in unserer Gruppe“, berichtet Jannes Walter (21). Viele der insgesamt 30 Mitglieder hätten ihre Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion. Daneben gäbe es Israelis, aber auch jüdische Menschen aus den USA und Großbritannien, aus Frankreich oder Aserbaidschan.

„Auch hinsichtlich der religiösen Praxis gibt es Unterschiede“, betont der Jura-Student. Einige ständen dem progressiven, dem konservativen oder dem orthodoxen Judentum nahe. Andere verbänden in ihrem Glaubensleben die verschiedenen Richtungen miteinander. Manche fühlten sich aufgrund ihrer sexuellen Identität oder ihrer Hautfarbe in organisierten Gemeinden unwohl. Den Säkularen sei weniger die Religion, als vielmehr die jüdische Kultur wichtig.

„Diese Vielfalt spiegelt sich auch darin, dass es neben den 100.000 Mitgliedern jüdischer Gemeinden in Deutschland mindestens noch einmals soviele religiös nicht organisierte jüdische Menschen gibt“, sagt der 21-Jährige. Nirgendwo sonst auf der Welt wachse die jüdische Gemeinschaft so schnell wie in Deutschland sei wegen seiner vergleichsweise geringen Lebenshaltungskosten, der niedrigen Studiengebühren und der guten Arbeitsperspektiven beliebt. Die Synagogen profitierten aber kaum davon.

Jüdisches Leben in Deutschland

„In unserer unabhängigen Hochschulgruppe, die es seit 2019 gibt, sind alle jüdischen Studierenden sowie junge Berufstätige willkommen“, stellt angehende Jurist klar. Die Gruppe biete einen „geschützten Raum“ des gegenseitigen Kennenlernens und des Austauschs. Dort müssten sich jüdische Menschen nicht ständig erklären. Die Gruppe wolle sich aber auch in der Öffentlichkeit „selbstbewusst“ zu Wort melden. Bereits zweimal hätten sie eine Jüdische Campus-Woche veranstaltet, mit einem Infostand Präsenz gezeigt. Beide Male seien sie auch mit anderen jüdischen Studierenden ins Gespräch gekommen, die noch nichts vom Verband gewusst hätten.

„Wir haben im vergangenen Jahr zusammen mit Schülern des Otto-Hahn-Gymnasiums die Gedenkstunde zur Reichspogromnacht am Mahnmal vorbereitet“, erzählt der Student. Mit den Jugendorganisationen von CDU, Grünen und Linken seien gemeinsame Workshops ausgerichtet worden. „Einige von uns engagieren uns engagieren sich an der Uni im interreligiösen Dialog“, sagt Walter. Es gebe gute Kontakte zur muslismischen Hochschulgruppe.

„Bis zu 300 Personen“, so der Student, seien zu den Parties gekommen, die sie zu jüdischen Feiertagen wie dem Lichterfest Chanukka und dem feuchtfröhlichen Purimfest im koscheren Bistro Löwenstein an der Roten Straße organisiert hätten. Zum Teil besuchten sie gemeinsam Gottesdienste in den beiden jüdischen Synagogen der Stadt – der progressiven Gemeinde an der Angerstraße und der konservativen Masorti-Gemeinde an der Roten Straße.
(Michael Caspar)

2021

Der jüdische Friedhof wird saniert

Start für 700 000-Euro-Projekt am Göttinger Stadtfriedhof
Ältester Grabstein von 1701

Von Peter Krüger-Lenz   © 04.09.2021 GT -- mit Genehmigung

Michael Fürst, Präsident des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, auf dem jüdischen Friedhof
Foto: Niklas Richter

Samstag, 04.09.2021

Göttingen. Der historische Teil des jüdischen Friedhofs am Stadtfriedhof in Göttingen ist gesperrt. Viele Grabsteine stehen wackelig, andere deutlich schräg. Das soll jetzt geändert werden. Voraussichtlich etwa 700 000 Euro wird es kosten, das Gelände zu sanieren. Fünf Jahre lang werden die Arbeiten dauern. Michael Fürst, Präsident des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden, war am Freitagvormittag für den Start der Sanierung nach Göttingen gekommen.

Der historische Teil des jüdischen Friedhofs in Göttingen ist mehr als drei Jahrhunderte alt. Der älteste Grabstein, der noch steht, stammt aus dem Jahre 1701. Das Gelände sei „der überlebende Teil der jüdischen Gemeinde vor der Shoah“, erklärte Fürst. 1700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands wird in diesem Jahr gefeiert. Eine Vielzahl jüdischer Gemeinden sei in diesen Jahrhunderten aus den Städten hinausgeworfen, neu gegründet und wieder entfernt worden.

In Göttingen war der Friedhof von den Nationalsozialisten schon früh, 1933, von 140 SA- Leuten geschändet worden, ein weiteres Mal in der Pogromnacht am 9. November 1938. Im Jahr 2000 schließlich wurden 40 Grabsteine mit Hakenkreuzen und antisemitischen Schmähungen beschmiert. Dennoch plädiert Fürst für das Anbringen eines Bauschildes zur Kasseler Landstraße hin. „Jeder soll wissen, dass hier ein jüdischer Friedhof liegt.“

Überlegungen seit 2017

80 Prozent der jüdischen Friedhöfe in Niedersachsen seien in einem guten Zustand, berichtete Bodo Gideo Riethmüller, Abteilungsleiter Friedhöfe beim jüdischen Landesverband. Der Göttinger Friedhof zählt nicht dazu. Im Jahr 2017 hätten sie erstmals darüber nachgedacht, die Begräbnisstätte in Göttingen zu sanieren.

Eigentümer war zu der Zeit eine jüdische Gemeinde in Göttingen. Die Sanierung sei allerdings ohne Erfahrung nicht möglich, so Fürst. Daher habe der Landesverband den historischen Teil übernommen, eine Fläche von etwa 3000 Quadratmetern, genauso groß wie der benachbarte aktuelle jüdische Friedhof. Nach einer Bestandsaufnahme war klar, dass von den 437 Grabsteinen 176 bearbeitet werden müssen. Fürst: „Das sind nur die, die dringend saniert werden müssen.“

Viele seien umgestürzt, andere stünden kurz davor, wieder andere seien abgesunken, erläuterte Fürst. Ob sie nach der Sanierung nie wieder absinken würden, könne niemand sagen – „aber nicht in der Zeit, die wir überblicken“.

Komplett umgestürzt

Auch Peter Hofmann, Steinmetzmeister der hannoverschen Firma Schmalstieg, war nach Göttingen angereist. Er zeigte einige besonders sanierungsbedürftige Grabstätten. Einige Grabsteine stehen bis zu 40 Zentimeter schief aus der Senkrechten, ein größeres Grabmal mit Säulen ist komplett nach hinten umgestürzt. Unmittelbar daneben steht ein mannshoher Grabstein, den Hofmann ohne große Anstrengung zum Kippeln bringt. Von diesen Gräbern geht eine Gefahr für Besucher aus. Deswegen ist der historische Teil auch geschlossen.

Ein „Kleinod“ nannte Riethmüller den jüdischen Friedhof in Göttingen. Hier könne die Kulturgeschichte solcher Begräbnisstätten nachverfolgt werden. Neben einfachen Steinen sind hier auch zahlreiche Stelen bis hin zu einem hausgroßen Grabmal zu sehen. Knapp 575 000 Euro sind für die Sanierung bereits zusammengekommen. 243 000 Euro kommen von der Bundeskulturbehörde, 75 000 Euro steuert die Deutsche Stiftung Denkmalschutz bei. Der Landesverband der jüdischen Gemeinde zahlt nahezu 232 000 Euro aus Eigenmitteln.

Fürst dankte dem SPD-Bundestagsabgeordneten Thomas Oppermann. Er habe das Geld vom Bund eingeworben. „Ohne ihn wären wir heute möglicherweise nicht hier.“ Oppermann war im vergangenen Jahr überraschend gestorben. Und: „Es ist die größte Maßnahme, die wir jemals durchgeführt haben.“

Denkmalstiftung gibt 75 000 Euro für Sanierung von jüdischem Friedhof

Gesamtkosten liegen bei 700000 Euro

© 14.09.2021 GT -- mit Genehmigung

Der jüdische Friedhof in Göttingen
Foto: Niklas Richter

Dienstag, 14.09.2021

Göttingen. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz unterstützt die Sanierung des historischen Teils des jüdischen Friedhofs in Göttingen. Für Natursteinarbeiten würden in diesem Jahr 75 000 Euro zur Verfügung gestellt, sagte Stiftungssprecher Thomas Mertz. Insgesamt sind für die Arbeiten rund 700 000 Euro veranschlagt. Zusagen für eine finanzielle Unterstützung gibt es bereits vom Bund und vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen.

Insgesamt umfasst der zu sanierende Friedhofsbereich auf einer Fläche von etwa 3000 Quadratmetern knapp 450 Grabstellen. 176 davon müssen bearbeitet werden. Der älteste dort noch stehende Grabstein stammt aus dem Jahr 1701. An den alten, zurzeit abgesperrten jüdischen Friedhof schließt sich der aktuelle jüdische Friedhof an, das gesamte Areal liegt auf dem Göttinger Stadtfriedhof.

Der historische Friedhof wurde während der Nazi-Diktatur mehrfach geschändet. Im Jahr 2000 beschmierten Unbekannte 40 Grabsteine mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen. epd

2011

Mehr als 300 Jahre alt: Der jüdische Friedhof Göttingen

Im "Haus für die Ewigkeit" werden die Gräber nicht eingeebnet
Ältestes Grabmal stammt aus dem Jahr 1701

Von Jörn Barke     -- mit Genehmigung; 18.04.2011 GT -- mit Genehmigung

Zeigt die Besonderheiten des Friedhofs: Harald Jüttner von der Jüdischen Gemeinde
Foto: Theodoro da Silva

Montag, 18.April.2011

Es ist kein Wunder, dass der jüdische Friedhof in der Nähe eines solchen Ortes liegt. Denn solche verfemten oder unwirtlichen Orte wurden den jüdischen Gemeinden früher im Zuge der allgemein üblichen Diskriminierung zugeteilt, wie Harald Jüttner von der heutigen Jüdischen Gemeinde berichtet. In Adelebsen musste die jüdische Gemeinde ihre Toten etwa in einem Steilhang begraben.

Der jüdische Friedhof in Göttingen ist mehr als 300 Jahre alt. Er wurde laut Jüttner vermutlich in der Mitte des 17. Jahrhunderts angelegt. Das älteste Grab stammt aus dem Jahr 1701. Ein jüdischer Friedhof sei ein „Haus für die Ewigkeit“, die Gräber würden niemals eingeebnet, so Jüttner. Traditionell sind die Gräber in Richtung Jerusalem ausgerichtet, in die Richtung, in die nach jüdischem Glauben einst die Auferstehung der Toten erfolgen soll. Das jüdische Totengebet sei ein Lobpreis Gottes, erklärt Jüttner. Auf dem Göttinger Friedhof weisen allerdings nur ältere Gräber Richtung Jerusalem, die späteren sind an die Topographie des Geländes angepasst und liegen weitgehend parallel zur Kasseler Landstraße.

Die Grab- und Gedenksteine auf dem Friedhof erzählen von der wechselvollen Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland. So gibt es für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten einen Gedenkstein von der Ortsgruppe Göttingen im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Eine preußische Pickelhaube auf einem Grabstein zeugt davon, dass es damals auch deutsch-national eingestellte Juden gab.

Wenige Jahrzehnte später zählte das alles nicht mehr, als der nationalsozialistische Vernichtungsfeldzug gegen das Judentum begann. Ein nach der NS-Zeit aufgestellter Gedenkstein erinnert zunächst noch eher zurückhaltend an den Holocaust: „Zum Andenken an die Mitglieder unserer Gemeinde, die in einer Zeit ihr Leben lassen mussten, in der die Liebe und die Achtung vor den Menschen gestorben waren.“ Deutlicher wird auf einem neueren Grabstein an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert. Dort wird der Familienmitglieder gedacht, „die in den Jahren 1942-44 durch die Nazis umgebracht wurden“.

Mehr als 300 Jahre alt: Der jüdische Friedhof Göttingen
Foto: Theodoro da Silva

Der Friedhof wurde durch glückliche Umstände während der Nazi-Barbarei nicht zerstört. Doch bis in die Gegenwart hinein ist er immer wieder Schändungen ausgesetzt. Im Jahr 2000 wurden mehrere Dutzend Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert und antisemitische Parolen aufgesprüht.

Die jüdische Gemeinde in Göttingen war durch die Vernichtungsaktion der Nazis allerdings so geschwächt, dass sie Anfang der siebziger Jahre nicht mehr weiterexistieren konnte. Mitte der neunziger Jahre konnte sie durch den Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wiederbelebt werden. Seitdem wird auch der Friedhof wieder belegt – von beiden jüdischen Gemeinden, die sich mittlerweile in Göttingen gebildet haben. Bedingt durch die Zuwanderer finden sich auf dem Friedhof mittlerweile nicht nur Inschriften auf Hebräisch und Deutsch, sondern auch in kyrillischen Schriftzeichen zu sehen.

Etwa 500 Grabstellen gibt es heute auf dem Friedhof. Darunter befindet sich nur ein einziges Mausoleum – dort liegt ein Kaufmann begraben, der ausgerechnet Deutschmann heißt. Ein besonderes Grab ist auch das eines britischen Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg. Der „Rifleman“ starb am 16. Oktober 1916 im Alter von 21 Jahren, „deeply mourned by his sorrowing mother, sisters, brothers and family“, wie es auf dem Grabstein steht. Dieser werde regelmäßig von der britischen Kriegsgräberfürsorge auf seinen ordnungsgemäßen Zustand begutachtet, so Jüttner. Auch der 2007 gestorbene ehemalige Göttinger Oberbürgermeister Artur Levi ist hier begraben. Der Friedhof werde durch eine Gärtnerei gepflegt, so Jüttner.

Auch in Geismar gab es einst einen jüdischen Friedhof. Er wurde 1937 beseitigt. Heute erinnern an ihn nur noch zwei Gedenksteine. Die Geschichte des jüdischen Friedhofs an der Kasseler Landstraße geht dagegen weiter.

FührungenGeschichte
Es finden regelmäßig Führungen über den Friedhof statt. Die nächste ist Sonntag, 8. Mai, mit Prof. Berndt Schaller. Treffpunkt ist die Gerichtslinde an der Straße An der Gerichtslinde. Männer werden gebeten, eine Kopfbedeckung mitzubringen. Informationen zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in der Region gibt es im historischen Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, das im Göttinger Wallstein-Verlag erschienen ist (2 Bände, 1678 Seiten, 59 Euro).